17. August - Tag 42 Von Windischthun nach Boizenburg (16 km)
Ich bin heute Morgen gegen 9 Uhr von der Herberge aufgebrochen. Die Betreiberin des Cafés und Herberge hat mir noch etwas von ihrem Leben erzählt. Sie wohnt schon zur Grenzzeit in dem Ort und hat miterlebt, wie Nachbarn über Nacht umgesiedelt wurden. Ohne einen bestimmten Grund, nur nach willkürlichem Verdacht.
Die Elbe haben die Bewohner nie gesehen, es war Sperrgebiet.
Besonders berührt hat mich aber das Schicksal ihrer Tochter, die durch eine Hirnhautentzündung mit 3 Jahren so geschädigt wurde, dass sie körperlich stark eingeschränkt ist. Sie konnte mit Unterstützung der Familie trotzdem den Realschulabschluss machen. Heute ist sie leider noch zusätzlich psychisch erkrankt, hört laute Stimmen und eine Schizophrenie wurde diagnostiziert. Und die Mutter, die das Café betreibt, ist trotzdem eine herzliche, offene und sehr positive Frau. Wahnsinn, wie sie das alles meistert und trotzdem Lebensfreude hat.
Sie erzählte mir, dass sie mit 4 Generationen im Haus leben, ihre Schwiegereltern, sie mit ihrem Mann, beide Töchter sowie der Ehemann und Nachwuchs der jüngeren Tochter. Und sie leben harmonisch zusammen. Sie erzählte mir auch von den vielen Klinik-Aufenthalten, der Wechsel zwischen Hoffnung und Verzweiflung sowie die Annahme der Situation wie sie ist.
Als ich diese Geschichte gehört habe, wurde mir bewusst, wie dankbar und demütig ich sein kann, dass es mir und meiner Familie gesundheitlich gut geht. Es ist für mich selbstverständlich, dass ich morgens aufstehe, mich im Spiegel erkenne, laufen und arbeiten kann. Und das ist nicht selbstverständlich, wenn wir uns das Schicksal von Michael Schumacher anschauen, kann sich das schnell ändern und nichts könnte einen davor schützen.
Das macht mich heute demütig und zutiefst dankbar, dass es mir so gut geht. Ich versuche, diese Dankbarkeit in meinem Bewusstsein zu halten, alle anderen Probleme sind dagegen völlig banal. Und diese Dankbarkeit und Demut zu fühlen erzeugt ebenfalls ein glückliches Gefühl in mir.
Überhaupt hatte ich heute einen tollen Wandertag, trotz schweren Gewitters. Ich hatte oft dieses Gefühl, dass ich zutiefst glücklich und vollkommen bin. Der Kopf war völlig leer und ich konnte jeden Schritt und Atemzug in dieser schönen Natur am Deich genießen.
Wahnsinn welches Leben sich hinter den Sorgen, Problemen, Gedanken und Ablenkungen verbirgt.
Auf dem weiteren Weg habe ich noch einen Techniker vom Hochwasserschutz getroffen.
Er hat mir von den Hochwasser-Katastrohen erzählt und wie knapp diese Region um eine Katastrophe herumgekommen ist. Das Wasser stand 20 cm unter der Deichkrone. Und letztendlich wurde die Katastrophe in dieser Region dadurch verhindert, dass woanders der Deich gebrochen ist und die neue Flutwelle dadurch abgeschwächt war. Des einen Leid war des anderen Rettung.
Er erzählte mir auch, dass er lange bei den Grenztruppen war und deshalb auch beschimpft wird. Er möchte diesen Abschnitt seines Lebens aber nicht verheimlichen oder sich dafür schämen. Aus heutiger Sicht würde er es nicht mehr tun, er ist aber als Jugendlicher mit dem System und den Glaubenssätzen groß geworden. Gott sei Dank gab es bei ihm keine Grenzvorfälle, sodass er sich in der Hinsicht nichts verwerfen muss.
Ich denke, dass es immer schwer ist ein Verhalten zu beurteilen wenn der Kontext und das System der Handlung nicht nachvollziehbar sind. Ich bin da oft schnell in einer Beurteilung oder Bewertung und sehe evtl. nur das aktuelle Verhalten. Und das geschieht schon im alltäglichen Leben. Dieses Treffen mit dem ehemaligen Grenzer macht mir das heute wieder bewusst.
Heute Abend schlafe ich in einer schönen Pension und koche mir in der kleinen Küche eine leckere Tütensuppe...
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